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Ich verbrachte den ganzen Tag in Gebet, Bibellesung, Lobgesang und Fasten. Nur am Morgen, als ich noch an andere Dinge dachte, überfiel mich jene Versuchung, daß ich gezwunge war, etwas wider meinen Willen zu denken. Diese Nacht schlief ich ganz ruhig. Gegen drei oder vier Uhr erwachte ich und lag wach, aber wie in einer Vision. Ich konnte die Augen öffnen und wach sein, wenn ich wollte, war also wach, aber doch im Geiste. Ich war von innerer Freude erfüllt, die ich am ganzen Körper empfand. Alles schien mir auf eine übernatürliche Weise emporzudrängen, gleichsam in die Höhe zu fliegen und dort im Unendlichen in einem Mittelpunkt zu münden. Hier in dieser Mitte war der Ort der Liebe selbst. Von hier floß alles wieder aus und strömte hernieder; alles war ein unfaßbares Kreisen um den Mittelpunkt, der die Liebe war. Diese Liebe im sterblichen Leibe zu fühlen, von ihr erfüllt zu sein, gleicht der Freude, die ein keuscher Mann hat, wenn er in wirklicher Liebe und in Begattung mit seiner Frau vereint ist. Solch ein höchstes Wonnegefühl war durch meinen ganzen Leib ergossen. Dies währte eine lange Zeit, vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen eine halbe bis ganze Stunde. Als ich so im Geiste und doch wach war - denn ich konnte die Augen öffnen und wach sein - und wieder in den Zustand kam, sah und erkannte ich den Ursprung der wahren Liebe. Je mehr man in dieser Liebe leben darf, desto tiefere Wonne fühlt man; aber sobald sich diese Liebe nicht auf Christus allein bezieht, verliert man den Weg. Durch die Liebe zu sich oder zu Dingen, die außer der wahren Liebe sind, vergeht sogleich dieser Wonnezustand. Darauf überkam mich Kälte und ein Schauer, der mir Qualen verursachte. Ich merkte, daß meine Qualen oft so entstanden waren und erkannte, wie daraus die große Qual entsteht, daß der Geist uns Trübsal macht. Wenn man Christus im Abendmahl unwürdig empfängt, quält uns der Geist wegen unserer Unwürdigkeit, bis wir schließlich in ewige Pein versinken und zur Hölle fahren. In Folge dieser Gedanken ward mein Zustand im Geiste noch tiefer. Obwohl ich wach war, hatte ich keine Gewalt über mich, sondern wurde von einem übermächtigen Verlangen ergriffen, mich auf die Erde zu werfen, die Hände zu falten und in tiefster Ehrfurcht und Demut zu beten, Gott möge meine Unwürdigkeit nicht ansehen, auf daß ich größter Sünder Vergebung der Sünden erlangen möge. Da merkte ich, daß ich in demselben Zustand war wie in der vorletzten Nacht, aber keine Vision hatte, weil ich ganz wach war. Ich wunderte mich darüber. Da wurde mir im Geiste gezeigt, daß der Mensch in diesem Zustand so ist, als strecke er die Füße in die Höhe und den Kopf nach unten, und es wurde mir klar, warum Moses seine Schuhe ablegen mußte, als er zu dem heiligen Ort trat, und warum Christus den Aposteln die Füße wusch und dem Petrus sagte: "Der gewaschen ist, bedarf nichts, als die Füße zu waschen." Dann erkannte ich, daß es der Heilige Geist ist, der vom Mittelpunkt der Liebe ausgeht. Er wird durch das Wasser verkörpert, denn er wird "Woge und Welle" genannt. Man ist also dann im rechten Zustand, wenn man seine Liebe nicht auf sich, sondern auf das allgemeine Gute richtet, das hier auf Erden und in der sittlichen Welt der Liebe im Geiste entspricht, und zwar darf man das nicht um seinetwillen oder um menschlicher Verhältnisse Willen tun, sondern um Christi willen. Christus ist die Liebe und der Mittelpunkt, Christus ist das letzte Ziel, alles andere ist nur der Weg, der zu diesem Ziel führt.
Darauf schlief ich ein und sah einen meiner Bekannten an einem Tisch sitzen. Er begrüßte mich, aber ich beachtete es nicht und grüßte zu spät. Er war beleidigt und sagte mir harte Worte. Ich suchte mich zu entschuldigen, indem ich sagte, daß ich oft in Gedanken wäre und nicht sähe, wenn jemand mich grüßte. Zuweilen ginge ich auf der Straße an Bekannten vorbei, ohne sie zu sehen. Das ließ ich von einem Bekannten, der anwesend war, bezeugen. Der bestätigte es. Ich sagte, daß niemand (Gott gebe, daß es so ist!) ergebener und demütiger sein könne, als ich. Dies kam mir im Traum, weil ich vorige Nacht Gedanken gehabt hatte, die ich nicht haben durfte. Möge mir Gott in seiner unendlichen Gnade verziehen. Mein Freund antwortete nichts mehr, schien aber überzeugt.
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